Erfahrungsbericht über Alkohol und Gewalt in der Familie

«Ich hatte schockierende, lähmende Angst»

Häusliche Gewalt ist in der Schweiz ein weitverbreitetes Problem. Bei rund einem Viertel der Vorfälle ist Alkohol im Spiel. Häusliche Gewalt ist deshalb auch ein Thema, mit dem sich das Blaue Kreuz auseinandersetzt. Im folgenden nonymisierten Bericht erzählt ein heute erwachsener Mann von seinen Erfahrungen, in einer Familie aufzuwachsen, in der Alkohol und Gewalt ein Thema waren – und gibt damit einen Einblick in die Herausforderungen und das Leid, das betroffene Kinder und Jugendliche erleben.

«Meine Mutter lernte meinen zukünftigen Stiefvater im Rahmen ihrer Arbeit als Betreuerin von Asylbewerbern kennen. Er kam hin und wieder zu uns nach Hause und begleitete uns nach einiger Zeit sonntags in die Kirche. Er konnte nur bruchstückhaft Deutsch und uns nervte, dass er nach Parfüm roch und wir wegen ihm zu dritt hinten im Auto sitzen mussten Wir, das waren meine beiden jüngeren Brüder und ich. Wir wuchsen als Familie in einem grösseren Dorf auf. Unsere Eltern haben sich in unserer Kindheit gut um uns gekümmert. Wir  unternahmen oft etwas zusammen im Wald, mit dem Fahrrad, zu Fuss oder im Winter auf Skiern. Als ich acht oder neun Jahre alt war, fing mein Vater an, öfter über Nacht wegzubleiben.

Irgendwann kam er nur noch sonntags nach Hause

Er müsse viel arbeiten und sei beruflich unterwegs, hiess es. Irgendwann kam er nur noch sonntags nach Hause. Wir erfuhren, dass er mit einer anderen Frau zusammenlebte. Ich vermisste meinen Vater sehr – gerade, weil wir früher viel zusammen unternommen hatten und weil er ein engagierter Vater war. Ich hoffte und betete, dass er meine Mutter wieder  lieben und zu uns zurückkehren würde. Als ich elf Jahre alt war, liessen sich meine Eltern scheiden. An jenem Tag sass ich in der Schule während der Pause allein auf dem Klettergerüst, das Fussballspielen liess ich für einmal aus – es war mir nicht danach zumute.

Meistens geschah es in ihrem Zimmer, hinter verschlossener Tür

Von dem Moment an, als ich gemerkt habe, dass zwischen meiner Mutter und dem Asylbewerber B. ‹was läuft›, habe ich ihn völlig ignoriert. Keine Begrüssung, kein Wort zu ihm. ‹Asylanten› hatten damals bei uns Jugendlichen keinen guten Ruf – ich schämte mich, dass meine Mutter mit ‹so einem› zusammen war. Überhaupt konnte ich niemand anderen an der Seite meiner Mutter akzeptieren. Ich hoffte immer noch auf die Rückkehr meines Vaters, auch wenn es aussichtslos war. Als ich 15 Jahre alt war, heirateten B. und meine Mutter. Die Trauung in der Kirche boykottierte ich – erst nach der Kirche stiess ich zur ‹Feier› dazu. Ich kann mich nicht mehr daran erinnern, wann es zum ersten Mal passiert ist. Aber an das Gefühl kann ich mich noch gut erinnern, diese schockierende, lähmende Angst. Meistens geschah es in ihrem Zimmer, hinter verschlossener Tür. Er wurde laut und aggressiv.
Meine Mutter wehrte sich mit einer ängstlichen, ja verzweifelten Stimme, die ich bis dahin nicht gekannt hatte. Nicht zu wissen, was genau vor sich ging, war vielleicht am Anfang das Schlimmste. B. heiratete eine alleinerziehende Frau mit drei pubertierenden Jugendlichen. Wir lebten in einer kleinen 4 ½-Zimmer-Wohnung.

Seinen Stress und seine Überforderung bewältigte er mit Alkohol

Er war in vielerlei Hinsicht mit den kulturellen Unterschieden herausgefordert und oft auch überfordert. Unter anderem konnte er die Rolle des Mannes als Familienoberhaupt nicht so leben, wie es in seiner Kultur üblich ist. Er war in vielen Dingen auf meine Mutter angewiesen – zum Beispiel bei Fragen und Aufgaben rund um Finanzen, Versicherungen und bei anderen administrativen Aufgaben – und auch ich war ihm in vielen Dingen überlegen. So organsierte ich beispielsweise die Familienferien. Seinen Stress und seine Überforderung mit der neuen Lebenssituation bewältigte er mit Alkohol. Tagsüber, wenn B. arbeitete, war die Atmosphäre zu Hause oft entspannt. Natürlich hatten auch wir Brüder unsere auseinandersetzungen, oft bedingt durch die beengten Wohnverhältnisse, wo zum Beispiel das Bad, der gemeinsame Spielcomputer und zu laute Musik Anlass zum Streit gaben. Aber sobald B. nach Hause kam, änderte sich die Atmosphäre schlagartig und alle waren angespannt. Wir waren sehr darauf bedacht, möglichst wenig Anlass zum Streit zu geben – und trotzdem unser Teenagerleben zu leben. Wenn ihn etwas störte oder ärgerte, liess er es an meiner Mutter aus.

Ich hasste diese Zeit der Ungewissheit

Er traute sich lange nicht, sich direkt bei uns zu beschweren. Auch meine Mutter war bemüht, möglichst wenig ‹falsch› zu machen. Manchmal waren die Auslöser für einen Streit auch absurd oder zumindest in ihrer Heftigkeit nicht nachvollziehbar. Ich erinnere mich zum Beispiel an einen Streit, der, wohl aus  Eifersucht, eskalierte, weil meine Mutter einem Nachbarn Milch abkaufte, weil dieser zu viel gekauft hatte und ihr welche anbot. Die Abende verliefen oft ähnlich: B. kam von der Arbeit nach Hause und ging nach kurzer Zeit müde, genervt, verärgert oder warum auch immer in die Dorfbeiz. Für uns begann das bange Warten. Ich hasste diese Zeit der Ungewissheit, diese Anspannung – die Ruhe vor dem möglichen Sturm. Er kam nicht volltrunken nach Hause. Aber wir wussten nie, wie er danach drauf war. Meistens ass er noch zu Abend. Da gab es oft Streit, wenn das Essen nicht seinen Vorstellungen entsprach. Manchmal ging er nach dem Essen müde ins Bett.

Manchmal ging der Streit bis zum Schlafengehen, manchmal eskalierte er und B. wurde gewalttätig gegen meine Mutter. Er schlug sie oder trat sie, wenn sie am Boden sass. In den vier Jahren, bis ich mit 19 Jahren in eine Wohnung im selben aus zog, konnte ich immer erst einschlafen, wenn es in ihrem Zimmer ruhig wurde und ich sicher war, dass es vorbei war, dass sie jetzt schliefen. Bis dahin lag ich jede Nacht wach in meinem Bett Später wurde ich manchmal gefragt, warum wir drei Brüder nicht eingeschritten sind, als er unsere Mutter geschlagen hat. Das fragt nur jemand, der diese lähmende Angst nicht kennt. Ich stand oft mit einem Messer in der Hand in meinem Zimmer. Ich hätte es nie gegen ihn eingesetzt. Aber es gab mir ein wenig Macht in meiner Ohnmacht.

Diese Ohnmacht hat Spuren hinterlassen

Diese Mischung aus lähmender Angst und unbändiger Wut ist eine traumatische Mischung, die sich tief einprägt. Eine Folge davon war, dass ich B. abgrundtief hasste. Das Schlimme für Kinder und Jugendliche, die solche Erfahrungen machen müssen, ist, dass wir doppelt leiden: Zum einen erleben wir schwierige, manchmal traumatisierende Situationen, wie ich sie vorher beschrieben habe. Zum anderen entstehen aus diesen Situationen schwierige Lebensmuster, die uns auf unserem weiteren Lebensweg immer wieder in die Quere kommen. In meinem Fall konnte ich sehr schlecht mit Situationen umgehen, in denen ich Ohnmacht erlebte, zum Beispiel in beruflichen Situationen oder später in der eigenen Familie. Die Ohnmacht, die ich spürte, wenn B. gewalttätig wurde, hat Spuren hinterlassen.

In neuen Situationen stieg in mir eine Wut auf, die füdie jeweilige Situation völlig übertrieben war. Seelsorgerlich-therapeutische Beratung hat mir geholfen, mit solchen Situationen mit der Zeit besser umzugehen – aber sie fordern mich bis heute heraus. Auch mit diesem Hass musste ich mich auseinandersetzen, um nicht davon geprägt zu werden. Gespräche mit Fachleuten und Schritte der Vergebung haben mir geholfen, diesen Hass nach und nach loszulassen. Die wenigen Menschen, denen ich meine Ge­schichte anvertraut habe, fragen mich manchmal, warum ich trotz diesen Erfahrungen ‹doch einen ganz guten Weg mit durchaus gesunden Beziehungen gefunden habe›. Rückblickend gibt es an den Erlebnissen und Umständen zu Hause nichts zu beschönigen. Aber ich kann dankbar auf die Umstände zurückblicken, die mich gestärkt haben, diese Erfahrungen zu bewältigen. Fachleute sprechen von Schutzfaktoren, die die Resilienz (Widerstandskraft) stärken.

Für folgende Schutzfaktoren bin ich dankbar:

Meine Mutter hat, trotz der auch für sie sehr belastenden Situationen, immer unsere Tagesstruktur aufrechterhalten und wir wussten, dass sie für uns da ist. Ich war gut in verschiedene Gleichaltrigengruppen integriert, in denen Alkohol und Drogen kaum eine Rolle spielten. Die Schule fiel mir im Grossen und Ganzen leicht und ich konnte selbstständig meinen Weg bis zur Matur gehen. Ich habe in diesen Jahren intensiv Fussball gespielt, was für mich als Jugendlicher ein wertvoller körperlicher Ausgleich war –und wodurch ich mehrmals in der Woche abends nicht zu Hause sein musste. Mein christlicher Glaube und die Einbindung in eine Kirche gaben mir Halt und oft auch Hoffnung in der Ohnmacht. Als Jugendlicher schämte ich mich für das, was bei uns zu Hause passierte und ich erzählte selbst guten Freunden kaum etwas davon. Diese Mauern des Schweigens zu durchbrechen und gerade auch Kindern und Jugendlichen entsprechende Hilfe anzubieten, ist eine wichtige Aufgabe für Organisationen wie das Blaue Kreuz. Denn in zwei von drei Fällen von häuslicher Gewalt leben auch Kinder und Jugendliche im Haushalt.»

 

*Anoynymer Erfahrungsbericht Nov, 2024