Aktionswoche: «Häufig sind Kinder in einem Loyalitätskonflikt»

Das Blaue Kreuz beteiligt sich an der von Sucht Schweiz geleiteten Aktionswoche «Kinder von suchtbetroffenen Eltern», die vom 17. bis 23. März stattfindet. Wir haben Nicole Chiantera-Tobler, spezialisiert auf Sucht in der Familie, zu ihrem Berufsalltag befragt.

Nicole, du arbeitest seit März 2023 beim Blauen Kreuz Bern-Solothurn-Freiburg als Suchtberaterin und befasst dich schwerpunktmässig mit Kindern von suchtbelasteten Eltern. Gibt es Zahlen oder Schätzungen darüber, wie viele Kinder in einer Familie mit problematischem Konsum leben?

Nicole Chiantera-Tobler: Sucht Schweiz nennt rund 100'000 betroffene Kinder. Man vermutet allerdings eine höhere Dunkelziffer. In einer Studie von Prof. Oliver Hümberlin von der Berner Fachhochschule aus dem Jahr 2020 heisst es, dass in der Schweiz 5,8 Prozent der Kinder in einer Familie mit risikoreichem Alkoholkonsum aufwachsen. Das
entspricht einer Anzahl von 73'136 Kindern.

Wenn Kinder betroffen sind, wird ein Alkoholproblem noch stärker tabuisiert. Wie spürst du dieses Doppeltabu in deiner Arbeit?

Ja, es ist tatsächlich ein heikles Thema. Die Eltern wollen gute Eltern sein, aber durch ihre Sucht können sie das nicht so sein, wie sie möchten. Häufig haben sie Angst, dass ihnen die KESB die Kinder wegnimmt.

Was erleben Kinder in suchtbetroffenen Familien im Alltag Zuhause und in der Schule?

Der übermässige Alkoholkonsum der Eltern beeinflusst die Kinder und ihre Entwicklung stark. Das können beispielsweise schlechtere Schulleistungen sein: Die Kinder können ihre Hausaufgaben nicht machen oder sich nicht auf Prüfungen vorbereiten, weil ihre Eltern streiten oder zu betrunken sind. Häufig schämen sich die Kinder und laden ihre Schulkameradinnen und Schulkameraden nicht ein, weil die Eltern sich unberechenbar verhalten. Auch kann es sein, dass Eltern ihren Kindern verbieten, andere Kinder mit nach Hause zu bringen. Eltern vergessen Dinge oder holen ihre Kinder nicht ab oder die Kinder sind nicht wettergerecht angezogen. Generell leidet die Verlässlichkeit der Familie. Das Kind fühlt sich nicht sicher, es fehlt ihm an Stabilität, es leidet unter Ängsten, Verunsicherung und einem verminderten Selbstwertgefühl. Oft nimmt es schon früh die Rolle der Eltern ein. Ich hatte ein 7-jähriges Mädchen in meiner Beratung, das viel allein Zuhause war, ohne Betreuung. Sie musste viel im Haushalt mithelfen, Dinge erledigen und konnte darum nicht wirklich Kind sein.

Wer meldet sich beim Blauen Kreuz für eine Beratung?

Meistens melden sich die suchtbetroffenen Personen selbst oder die Angehörigen von betroffenen Personen per Telefon oder online. Minderjährige Kinder können aus gesetzlichen Gründen nicht ohne die Einwilligung der Eltern zu uns kommen.

Wie läuft eine solche Beratung ab?

Häufig geben sich die Kinder selbst die Schuld für diese Situation und denken: «Wenn ich ein liebes Kind wäre, müsste mein Papa nicht trinken.» Erlebst du dies in deiner Beratung?

Ja, das kann ich bestätigen. Ich hatte einen 9-jährigen Jungen bei mir in der Beratung, der mir sagte, dass er das Gefühl habe, schuld an allem zu sein. Er dachte, weil er sich so oft mit seiner Schwester streite, sei er schuld daran, dass sein Vater trinke. Es war dann im Gespräch wichtig, dass ich ihn entlastete und betonte, dass er keine Schuld an der Situation trage. Häufig ist dieses Schuldgefühl aber stark und tief verankert. Kinder geraten oft in einen Loyalitätskonflikt: Sie haben Angst, ihre Eltern zu verraten und Verantwortung an einer möglichen Eskalation zu tragen. Ein weiteres Thema ist Mobbing. Ein Kind erzählte mir, dass es in der Klasse gemobbt werde. Wegen des Alkoholproblems der Eltern sanken die Schulnoten des Kindes, es isolierte sich mehr und mehr. In der Beratung gab ich dem Kind Gehör und bot ihm an, dass es mit mir darüber sprechen könne, weil es das mit den Eltern nicht konnte. In der gemeinsamen Beratung mit den Eltern habe ich dies dann thematisiert.

Wie ging es weiter?

Die Eltern waren schockiert, als sie vom Mobbing erfuhren. Sie hatten davon nichts mitbekommen. Zusammen mit den Lehrpersonen und dem Schulsozialdienst suchten wir nach Lösungen.

Kamen die Eltern zum Blauen Kreuz in die Suchtberatung?

«Sucht in der Familie» zu dritt. Tatsächlich gingen der trinkende Elternteil und der Ehepartner zu einer meiner Teamkolleginnen in die Beratung, während die Kinder bei mir in der Beratung waren. Glücklicherweise konnten wir den Fall inzwischen abschliessen.

Empfinden Kinder manchmal Wut oder Hass auf ihre Eltern?

Man muss differenzieren: Es ist nicht so, dass die betroffenen Kinder die Elternperson generell hassen, sondern den alkoholtrinkenden Teil der Elternperson. Wenn die Elternperson mal nicht konsumiert und gutgelaunt oder unternehmungslustig ist, dann liebt das Kind seine Eltern wie in einer nicht suchtbelasteten Familie.

Verheimlichen Eltern ihre Sucht vor ihren Kindern?

Ja, viele Eltern verstecken Flaschen und glauben, die Kinder würden sie nicht finden. Oder sie trinken, wenn sie denken, dass die Kinder schlafen. Kinder sind sehr feinfühlig. Sie merken sehr schnell, wenn etwas nicht stimmt und dass das Verhalten der Eltern anders ist. Kinder bekommen das Trinken der Eltern immer mit.

Wie hoch ist das Risiko, dass Kinder von trinkenden Eltern später psychische Probleme bekommen?

Gemäss dem Institut Kinderseele Schweiz haben solche Kinder ein um 50 Prozent höheres Risiko, später psychische Probleme zu bekommen.

Was kann man tun, damit es nicht so weit kommt?

In unserer Funktion können wir früh intervenieren, den Kindern Gehör schenken, sie entlasten. Das ist entscheidend für die Entwicklung und spätere Zukunft des Kindes. «Sucht in der Familie» ist ein Angebot dazwischen, das heisst, wir entlasten die Kinder, die noch nicht in eine Therapie gehen, aber viel durchmachen und viel erlebt haben. Wir fragen: «Was benötigt das Kind?» Wir besprechen mit den Kindern die fünf Gefühle Angst, Wut, Scham, Verantwortung und Misstrauen.

Danke für das Gespräch, Nicole!

Alle Veranstaltungen während der Aktionswoche «Kinder von suchtbetroffenen Eltern» sind auf der Website von Sucht Schweiz aufgelistet:
Programm der Aktionen - PAPA TRINKT. MAMA TRINKT.